Irgendwann in diesem Sommer machten Tina und ich an einer Wegekreuzung eine kleine Pause. Ein Biker nähert sich, stoppt einige Meter vor uns, zieht sein Handy heraus und checkt seine Digitalkarte.
‚Welcher ist der schönere Naturtrail, links oder rechts?‘, fragte der Biker nach einigen Sekunden Webrecherche. Ich hätte mir zwar ein ‚Hallo‘ oder ‚Guten Tag‘ gewünscht, aber unser Gegenüber schien in Eile oder etwas aufgeregt zu sein. Noch bevor ich antworten konnte, bog der Biker nach rechts ab – offenbar immer noch zu gestresst, um sich zu verabschieden.
Uns beiden beschäftigte dieser Monolog noch eine Weile. Einerseits fragten wir uns, was wir hätten antworten sollen, schließlich kannten wir weder die Trailvorlieben unseres Gegenübers. Andererseits stießen wir immer wieder auf verschiedene, teils gegensätzliche Auffassungen darüber, was eigentlich ein ‚Naturtrail‘ ausmacht.
Was meint unser Kollege mit ‚Naturtrail‘?
Die Natur selbst hat keine Trails erschaffen. Sie hat auch keine Naturpyramiden, Naturschlösser oder Naturkirchen hervorgebracht. Was wir als Natur erleben, ist die lebendige Landschaft, in der über Jahrmillionen hinweg geologische und biologische Kräfte zu einem einzigartigen Kunstwerk geführt haben.
Soweit habe ich jetzt Natur definiert, nun kommen ich zum zweiten Teil, dem Trail. Unser Sport hat den Ursprung in den USA und bedient sich somit meist mit englischen Wörtern, ein Trail ist also übersetzt ein Pfad.
Vor gut 40 Jahren schraubten einige enthusiastische Radsportler in Kalifornien breitere Reifen und stabilere Komponenten an ihre Rennräder und bretterten mit den Drahteseln über die Schotterpisten. Dieser Hype führte zur Entstehung einer neuen Sportart, die mittlerweile zu einer der beliebtesten Sommer-Freizeitaktivitäten weltweit geworden ist.
Mountainbiken wurde in den USA schnell als Sportart anerkannt, und Sport braucht eben auch Sportstätten. Aufgrund des Mangels an schmalen Wegen entstanden im ganzen Land neue Trails und Trailcenter. Biker organisieren sich schnell in einem Verband: International Mountain Bicycling Association (IMBA) . Dieser Verband entwickelte sich zu einem der größten Sportvereine der USA und trug maßgeblich dazu bei, dass Mountainbiken als ernstzunehmende Sportart anerkannt und in vielen Gremien vertreten wird.
Mit etwas Verzögerung fand der neue Sport auch seinen Weg nach Europa, besonders in die Bergregionen. Es dauerte nicht lange, bis viele begeisterte Rennradfahrer ihr Rennrad gegen ein Bergradl tauschten. Die Natur, der geringe Verkehr und die technischen Herausforderungen auf schmalen Wegen machten das Mountainbiken schnell zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung.
Biker griffen hierzulande zunächst auf die bereits vorhandenen Strukturen zurück, das dichte Wegenetz im Alpenraum bot eine wahre Spielwiese für die ersten Mountainbiker. Zu Beginn war deshalb auch kein großer Bedarf daran, sich zu organisieren. In der Pionierzeit wurden die wenigen Biker meist noch bewundert, beklatscht oder, in manchen Fällen, schmunzelnd für verrückt erklärt.
Mit dem massiven Anstieg der Bikerzahlen wuchsen jedoch auch die Kritiken. Wegebetreiber, Grundeigentümer und andere Wald- und Wegenutzer begannen, die Neuankömmlinge von den Trails zu vertreiben. Spätestens jetzt rächt es sich, dass es in unseren Ländern lange Zeit keinen Verband wie die IMBA gab. Die Biker fanden sich meist ohne Vertretung in entscheidenen Diskussionen von Wegehaltern und Interessensgruppen.
Um nicht in die Komplexität aktueller Gesetzeslagen und Verordnungen abzutauchen oder Diskussionen über "Der Weg gehört uns alle" führen, versuche ich hier kurz aufzuschlüsseln, wie das Wegenetz in den Alpen, insbesondere hier im Vinschgau, überhaupt entstanden ist.
Dabei geht es weniger um den heutigen Stand der rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern vielmehr um die historischen Grundlagen, die diese Wege geprägt haben und welche Bedeutung sie für die Entwicklung des Outdoor-Tourismus und des Mountainbikens im Allgemeinen hatten.
Im Herbst 1991 entdeckten Urlauber im Schnalstal einem Seitental des Untervinschgaus eine Gletschermumie, die später als Ötzi, der „Mann aus dem Eis“, bekannt wurde. Dies beweist, dass bereits vor rund 5.000 Jahren Menschen über den Alpenhauptkamm auf speziellen Wegen unterwegs waren. Diese frühen Wege dienten vor allem dem Transport von Waren wie Metallen und anderen Gütern. Da das Rad noch nicht erfunden war, nehmen Historiker an, dass diese Pfade schmal und vor allem für Maultiere oder Pferde geeignet waren.
Mit den Römern begann die systematische Erschließung der Alpenpässe. Ein herausragendes Beispiel ist die Via Claudia Augusta, die sich von Venedig bis nach Augsburg zog. Diese bedeutende Handelsstraße war nicht nur für den Warenverkehr von entscheidender Bedeutung, sondern auch für militärische Bewegungen. Heute ist ein Teil dieser Route als beliebter Fernradweg bekannt.
Im Mittelalter wurde die Viehwirtschaft in den Alpen stark intensiviert. Überall in den höheren Lagen wurden Almen angelegt, um das Vieh zu weiden. Besonders im Vinschgau entstanden die berühmten Waalwege – kunstvolle Wasserkanäle, die das Wasser von den Tälern über die Hänge verteilen. Diese Bewässerungstechnik war entscheidend für die Landwirtschaft in dieser Region. Ähnliche Anlagen findet man im Aosta, Tessin, Wallis.
Parallel dazu wurden viele schmale Säumerpfade und Schugglerwege verbreitert. Diese wurden häufig genutzt, um leichte Waren wie Salz, Gewürze, Stoffe und Lebensmittel ohne die Aufsicht der Zollbehörden in die benachbarten Grafschaften zu schmuggeln. Diese Wege waren eine wichtige Grundlage für den Handel, der über die Alpen hinweg florierte.
Zusätzlich entwickelten sich im Mittelalter Pilgerrouten, darunter auch der Jakobsweg, der als Verbindung zwischen den nördlichen und südlichen Pilgerstätten diente.
Vom Mittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Die Alpen spielten in den meisten Konflikten eine strategische Rolle, viele Wege in grenznahen Gebieten wurden bis zum Anfang des 20ten Jahrhunderts angelegt, um die Grenzen zu sichern und schweres Geschütz zu transportieren.
Sämtliche Trails vom Stilfserjoch über die Pässe zum Gardasee - durch die Dolomiten sind aus militärischen Strategien entstanden, genauso wie die schönen Trails in den Westalpen.
Im 19. Jahrhundert wurden die Alpen als Landschaft für Erholung und Inspiration entdeckt. Dies führte zur Gründung der ersten Alpenvereine, die es sich zur Aufgabe machten, die Berge zugänglicher zu machen. Sie begannen, Wege zu markieren, zu bauen und zu kartographieren, um Wanderern und Bergsteigern die Orientierung zu erleichtern. Gleichzeitig entstanden überall in den Alpen Schutzhütten und Unterstände, die eine wichtige Basis für längere Touren und Aufenthalte boten. Diese Infrastruktur beflügelte den aufkommenden Alpinismus, bei dem immer mehr Gipfel bestiegen wurden und Kletterer stetig neue Herausforderungen suchten.
Während das Bergsteigen und Wandern bis zum Zweiten Weltkrieg eher der Oberschicht vorbehalten war, wandelte sich dies in der Nachkriegszeit. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung wurde Urlaub in den Bergen zu einem regelrechten Volkssport. Der Boom im Tourismus führte zu einer systematischen Erweiterung und Markierung des Wegenetzes, um den immer größeren Besucherzahlen gerecht zu werden.
Parallel dazu entstanden in den 1920er Jahren erste Nationalparks, Naturparks und Schutzzonen, die den Erhalt der alpinen Natur sichern sollten. Diese Maßnahmen legten die Grundlage für den Schutz der empfindlichen Ökosysteme und stellten einen wichtigen Schritt in Richtung nachhaltiger Nutzung der Alpen dar. Allerdings brachten diese Entwicklungen auch die ersten bürokratischen Hürden mit sich, die den Zugang zu den Alpen regulierten und den Umgang mit den Bergen veränderten.
Kein römischer Streitwagen rollt heute mehr über die Via Claudia Augusta, und auch die Militärwege im Ortlergebiet haben glücklicherweise ihre ursprüngliche Funktion verloren. Doch viele der historischen Pfade und Wege in den Alpen dienen auch heute noch dem Zweck, für den sie einst angelegt wurden.
Allerdings sorgt die zunehmende Vielfalt der Wegnutzer, darunter auch wir Mountainbiker, immer öfter für Konflikte. Bürokratische Vorgaben, Besitzdenken der Wegepfleger und die stark gestiegenen Frequenzen machen es schwierig, neue Nutzungsformen wie das Mountainbiken zu integrieren. Verbote und Einschränkungen werden vielerorts ausgesprochen, da die Nutzung der Wege durch Mountainbiker kontrovers diskutiert wird.
Die Auswirkungen des Mountainbikens auf Wege sind vielfältig und komplex. Sie hängen von vielen Faktoren ab, wie der Art des Untergrunds, der Nutzungsintensität und dem Verhalten der Biker. Ob Mountainbiken für die Wege und die Umgebung eher Fluch oder Segen ist, hängt letztlich von den Entscheidungen ab, wie wir gemeinsam diese wertvollen Pfade nachhaltig nutzen und pflegen können.
Mountainbiken – als Sport- und Freizeitaktivität – hat in den letzten 15 Jahren auch in den Amtsstuben Einzug gehalten. Ähnlich wie der Skisport, der eine ausgebaute Infrastruktur mit Aufstiegsanlagen und Pisten benötigt, wurde auch der Bedarf an geeigneten Wegen für den Bikesport erkannt und zunehmend gefördert.
Ein bedeutender Fortschritt war die Klärung der Haftungsthematik: Grundeigentümer werden durch Versicherungen von Wegebetreibern wie Tourismusverbänden oder dem Alpenverein von ihrer Haftung befreit. Die Kanalisierung der Mountainbiker durch spezifische Beschilderung und offizielle Navigationshilfen hilft dabei, den Großteil der Fahrer auf gewünschte Trails zu lenken und Konflikte zu minimieren.
In der Region werden zunehmend Trails speziell für Biker gebaut, während einige bestehende Wege fürBiker gesperrt wurden. Gleichzeitig wurde die Wegepflege intensiviert, um den gestiegenen Nutzungsdruck abzufangen. Das Mountainbiken hat insbesondere im Vinschgau zur Belebung des Tourismus beigetragen, bringt jedoch auch Herausforderungen mit sich. Dazu zählen der Erhalt der Wege, die Vermeidung von Naturzerstörung und die Lösung von Konflikten zwischen verschiedenen Wegenutzern.
Um diese Herausforderungen zu bewältigen, sind gute Strukturen, klare Regeln und ein respektvoller Umgang miteinander von entscheidender Bedeutung. Nur so kann der Bikesport nachhaltig weiterentwickelt werden, um den Bedürfnissen aller Beteiligten gerecht zu werden.
Damit unsere liebgewonnenen Trails im Vinschgau weiterhin konfliktfrei genutzt werden können, ist viel Einsatz notwendig. Unser Trailcare und Trailbau Rückblick 2024 werde ich in einem anderen Artikel zusammen fassen.
Die Vinschgauer wünschen sich in den Bergen nette Menschen. Wir machen keinen Unterschied, ob Wanderer, Bergläufer, Hundebesitzer, Biker. Sei respektvoll, fahr vorausschauend, hab einen Gruß parat, und stell präzise Fragen. Und warte auf die Antwort, dann hilft dir jeder den schöneren Trail zu finden.
In diesem Sinne, lasst uns gerne wissen, welchen Einsatz ihr für eure Hometrails macht.
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